Versuchsobjekt Astronaut: Mit Katheter in die Schwerelosigkeit

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Während der zweiten deutschen Spacelab-Mission D2 im Jahr 1993 umkreiste Hans Schlegel 160 Mal die Erde und führte dabei als Nutzlastspezialist die zahlreichen internationalen Experimente durch. Für Schlegel war es der erste ins Weltall. Im Interview erinnert er sich 20 Jahre später daran, wie die Mission startete, welche Experimente ihm in besonderer Erinnerung geblieben sind und wie das Arbeiten im Weltraum-Labor ist.

Die D2-Mission fing sehr nervenaufreibend an: Drei Sekunden vor dem geplanten Abheben am 22. März 1993 wurde der Start abgebrochen. Wie lange dauert es, bis das Adrenalinpegel nach dem Aussteigen wieder normalisiert?

Wir hatten bei dieser Mission auch in den Tagen davor viele, viele Verschiebungen erlebt. Und jetzt passte anscheinend auf einmal alles zusammen. Das Wetter vor Ort wurde besser, alle anderen Parameter wie zum Beispiel das Wetter über dem Atlantik bei den Notlandestellen spielten mit. Unser Gefährt funktionierte. Die Mannschaft war auf den Punkt vorbereitet. Und im Laufe des zweieinhalbstündigen Countdowns, bei dem wir schon im Shuttle saßen, hieß es immer: Es funktioniert alles, wir gehen heute in den Orbit.

Wir waren schon in der Phase, wo die Triebwerke brannten, wo die Haupttriebwerke geschwenkt werden. Das führt dazu, dass das Shuttle ein wenig schwankte – man spürt die Bewegung. Und dann kam auf einmal drei Sekunden vor dem Abheben diese Warnsirene, die wir von Simulationen kannten. Aber wenn das wirklich passiert, geht das Adrenalin hoch – wenn das überhaupt noch möglich ist so kurz vorm Start. Der Bordcomputer hat sofort innerhalb von hundertstel Sekunden die Triebwerke abgeschaltet.

Für uns war das ein Ersterben der Geräuschkulisse. Und dann kommt die Spannung: Was ist passiert? Ist die Situation gefährlich oder nicht? Müssen wir jetzt innerhalb von Sekunden heraus, mit der Seilbahn zur Erde schweben und in den Bunker gehen? Auf der einen Seite war ich enttäuscht über den abgebrochenen Start, auf der anderen Seite erleichtert, dass die gefährliche Situation gemeistert wurde. Ich fand mich noch sehr neutral, aber auf den Fotos von uns während unseres Ausstiegs habe ich in meinem Gesicht 100 Prozent Enttäuschung gelesen. Eine sehr interessante Erfahrung, die ich aber nicht noch mal machen möchte.

Es dauerte dann noch einmal fast einen ganzen Monat, bis es wirklich losging. Sie hatten ja lange für Ihren ersten Flug trainiert, aber kann ein Training – sei es auch noch so umfassend – auf die ersten Momente in und den Flug im Shuttle vorbereiten?

Erst einen Fehlstart zu erleben und sich dann noch mal konzentriert auf den Start vorzubereiten, das ist wie beim Sport. Man muss sich fokussieren können, als wäre es der erste und einzige Start. Darauf wird man vorbereitet. Das Training ist auch darauf ausgelegt, uns auf die vorzubereiten, indem man zum Beispiel an Parabelflügen teilnimmt und da mehrmals 20 Sekunden Schwerelosigkeit erlebt.

Aber die andauernde Schwerelosigkeit, die Anpassung des Körpers an diesen Zustand – darauf kann man sich nur theoretisch vorbereiten. Davon hat man gehört, aber das physikalisch und psychologisch zu verarbeiten, das muss jeder für sich selbst machen. Das dauert so zwischen zwei und fünf Tagen, bis man wieder im Gleichgewicht ist, und man gelernt hat, mit der Schwerelosigkeit umzugehen.

Ihre Mission ging über zehn Tage, die vollgestopft waren mit Experimenten von der Robotik bis hin zur Biologie. Sie sind studierter Physiker – welche Experimente sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

In der Vorbereitung macht man keine Unterschiede. Und auch wenn man ein nach zehn Stunden Arbeit im Weltall durchführt, macht man es mit derselben Sorgfalt und Konzentration, wie das zu Beginn des Arbeitstages. Aber natürlich lernt man im Laufe der viel Neues, denn man muss die Experimente ja durchaus kritisch ausführen: Ist der Ablauf wie geplant oder ist die Abweichung ein Fehler des Geräts oder das Ergebnis?

Aber das hat mich ja genau zum Physiker gemacht – das kritische Experimentieren. Ganz ehrlich: Mir liegen besonders die medizinischen Experimente, bei denen der nicht nur der Durchführende, sondern auch das Versuchskaninchen ist. Ich bin zum Beispiel mit einem zentralen Venenkatheter gestartet, der in der linken Armbeuge in meine Vene eingeführt wurde und dann über die Halsvene bis fünf Zentimeter vors Herz vorgeschoben wurde.

Während des Flugs kontrolliert man dann, ob alles aufgezeichnet wird. Das verlangt auch Abstraktion von den eigenen körperlichen Gefühlen und vielleicht auch von der psychologischen Seite, dass man gerade die Messwerte des eigenen Körpers beobachtet. Das fand ich ausgesprochen herausfordernd – aber irgendwann gewöhnt man sich daran.

Wenn man Fotos von Astronauten während der Experimente sieht, lächeln die oftmals oder sehen erstaunt aus – ist man tatsächlich so erfreut und verblüfft über die Ergebnisse, die man zu sehen bekommt?

Ganz nüchtern gesagt: Wir wissen ja, dass wir fotografiert werden, dann macht auch jeder ein freundliches Gesicht. Andererseits bringen die Mission und die erfolgreiche Durchführung der Experimente auch Zufriedenheit, Glücksgefühle und Erfolgserlebnisse mit sich.

Das erste Mal, als ich wirklich selbst gedacht habe, jetzt bin ich entspannt – das war nach vier, fünf Tagen, als ich beim Kontakt mit der Bodenstation ein Lachen im Hintergrund hörte. Dann weiß man nicht nur, dass man seine Experimente gut macht, sondern auch dass die Wissenschaftler am Boden in gelöster Stimmung über die erfolgreiche Mission sind. Diese Freude überträgt sich auf die Astronauten.

Bei der D2-Mission flogen Sie mit dem Spacelab durch das Weltall, 2008 sind Sie dann zur Internationalen Raumstation ISS für die Installation des europäischen Columbus-Moduls geflogen. Wie vergleichbar ist dieser Einsatz in den beiden Weltraumlaboren?

Das ist sehr unterschiedlich. Rein räumlich sind das Spacelab und das Columbus-Modul zwar sehr ähnlich – sechseinhalb Meter lang, fünf Meter Durchmesser, ausgestattet mit den Experimentierschränken und den Lebenserhaltungssystemen. Aber der Ablauf ist zu 100 Prozent unterschiedlich. Für die D2-Mission hatten wir Jahre vorher damit verbracht, die einzelnen Experimente zu verstehen und zu üben – und dann wird innerhalb von zehn Tagen ein Experiment nach dem anderen durchgeführt ohne Abweichung. Das ist alles sehr festgelegt.

Mit dem Columbus-Modul haben wir heute ein Labor, das über Jahre im Orbit ist und in dem rund um die Uhr das Experimentieren in Schwerelosigkeit durchgeführt wird. Es ist ein bisschen mehr wie in einem Labor auf der Erde, wo man verschiedene Experimentreihen mit verschiedenen Parametern hintereinander machen kann.

Sie waren damals mit der D2-Mission zehn Tage im All, für die Columbus-Mission dann 13 Tage. Hätte Sie damals auch eine Langzeitmission gereizt, wie sie heute üblich ist?

Oh ja! Das war der Grund, warum ich nach der D2-Mission als Ersatzkosmonaut für eine deutsch-russische Mission gearbeitet habe und mich danach als europäischer Astronaut beworben habe, um in den USA ausgebildet zu werden für einen Langzeitflug.

Das hat sich dann nicht ereignet. Stattdessen bin ich ausgewählt worden, um einen Shuttle-Flug durchzuführen und das Columbus-Labor zur Raumstation zu bringen. Damit musste ich zufrieden sein, und es war auch eine große Ehre für mich. Aber mein eigentlicher Traum wäre tatsächlich ein Langzeitaufenthalt im All gewesen. Ich bin noch heute Astronaut und auch noch einsatzfähig – aber mit meinem Alter von 61 Jahren wird man mich wohl nicht mehr dafür auswählen.

Wie wäre es mit oder Mars?

Natürlich! Die Vision für mich ist, dass wir Menschen vielleicht zum zurückkehren und lernen, wie wir auf einem anderen Planeten überleben können und dort vielleicht sogar eine Station aufbauen. Für mich ist das ultimative Ziel – und die Menschen werden das ohne Zweifel machen – zum Mars zu fliegen und dort zu siedeln. Die Frage ist nur: Werden wir es schaffen und wann? Ich hoffe, dass ich den Ansatz davon noch miterlebe.

Interview: Manuela Braun